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Juden und Frauen in der deutschen Academia

Prof. Dr. Christina von Braun

Jüdische Frauen gehörten zu den Pionierinnen im Kampf der Frauen für das Stimmrecht und für das Recht auf Bildung. Sie gehörten zu den ersten Medizinerinnen und Naturwissenschaftlerinnen und übten einen wichtigen Einfluss auf Modernisierungsprozesse in der Ökonomie, Politik, den Sozialkämpfen und für einen allgemeinen Mentalitätswandel. Dieser vollzog sich in Deutschland nur gegen große Widerstände, schlug sich andererseits aber auch in der Entstehung neuer Wissensgebiete wie den Sexualwissenschaften und der Psychoanalyse nieder. Zu den Vorkämpferinnen der öffentlichen Wohlfahrt gehörten Alice Salomon und Käthe Frankenthal. Pionierinnen der Geschichtswissenschaft (eine Disziplin, die sehr ‚deutsch‘ und damit ‚unjüdisch‘ besetzt war, weil ihr nach den napoleonischen Kriegen die Entwicklung eines in die Vergangenheit zurückweisenden ‚deutschen Narrativs‘ überantwortet wurde) waren Selma Stern und Hedwig Hintze. Emmy Noether wurde zur Schrittmacherin einer modernen Mathematik und damit eines Fachs, das bis heute überwiegend männlich besetzt ist.

In dem Vortrag soll der Hintergrund beleuchtet werden, der zu den radikalen Veränderungen sowohl des deutsch-jüdischen Verhältnisses in den Wissenschaften als auch der Geschlechterordnung führte. Diese Veränderungen vollzogen sich in (mentalitätsgeschichtlich gesehen) ungewöhnlich kurzer Zeit und basierten unter anderem auf neuen Vorstellungen von Gemeinschaft und auf den neuen biologischen Erkenntnissen über den männlichen und weiblichen Anteil am Zeugungsakt. In den paradigmatischen Rollen, die dem ‚jüdischen‘ und dem ‚nichtjüdischen‘ Kollektivkörper wie auch den beiden Geschlechtern zugewiesen wurden, überschnitten sich die beiden Entwicklungen. Zu den Folgen gehörten: einerseits eine Vorreiterrolle von Juden in der Medizin und den Sexualwissenschaften, andererseits aber auch ein von Sexualbildern durchsetzter rassistischer Antisemitismus. Die beiden Aspekte bildeten das geistige und soziale Umfeld, in dem Emmy Noether und andere jüdische Akademikerinnen ihren Weg zu gehen versuchten.