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Denkraum Noether-Schule – Über neue Wissensvorstellungen und alte Denkmuster

Dr. Mechthild Koreuber

Das Werden von Mathematik kann als ein Widerstreiten von Auffassungen über sie, als Dispute über die Deutung mathematischer Begriffe und als Diskurse über die Fruchtbarkeit methodischer Konzepte betrachtet werden. Diese Perspektive einzunehmen erlaubt, die Entstehung und Rezeption mathematischer Erkenntnis als soziokulturellen Prozess zu begreifen. Die Veränderungen mathematischer Wissensvorstellungen des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts hin zu einer strukturellen Perspektive auf die Mathematik sind das Ergebnis eines Kulturwandels und der Erfolg einer kulturellen Bewegung der modernen Algebra, zu deren bedeutsamsten Protagonist*innen Emmy Noether und die Noether-Schule gehören.

Bereits Mitte der 1920er Jahre wurde von der Noether-Schule gesprochen. Vertreter*innen unterschiedlicher mathematischer Disziplinen, die sich für eine Kultur des abstrakten Denkens begeisterten, waren Teil dieses Kreises. Sie sahen in den modernen algebraischen Methoden Noethers Möglichkeiten der Neukonzeption oder Grundlegung ihrer angestammten Forschungsfelder. Idealtheorie und Algebrentheorie erhielten durch die Noether-Schule ihre moderne Gestalt; die algebraischen Formungen von Geometrie, Topologie und Zahlentheorie nahmen dort ihre Anfänge; ein Verständnis der Mathematik als Strukturwissenschaft hatte dort seine Ursprünge. Die Noether-Schule war ein Ort, der erlaubte und einforderte, alte Traditionen zu verlassen, sich über Denkverbote hinwegzusetzen und neue mathematische Zugänge und Methoden zu wagen – ein Denkraum, geschaffen auf der Grundlage der spezifischen Arbeits- und Auffassungsmethoden Noethers. Die Noether-Schule als Teil einer kulturellen Bewegung der modernen Algebra in den Blick zu nehmen und damit auch Fragen nach Noethers Gestaltungsmöglichkeiten und ihrer Wirkmacht zu beantworten ist die Intention meines Beitrags.